Im November 2017 zog der HIDALGO zum ersten Mal los: In der Raum-Klang-Installation „Orplid“ erschufen wir eine Traumwelt, inspiriert von der Ästhetik der Trance- und Goa-Szene. Vor dieser ersten Pilot-Veranstaltung hatten wir wochenlang an Modellen gearbeitet, mit Schwarzlicht experimentiert und in einer alten Fabrikhalle mit vielen Helfer*innen mehr als 300 Quadratmeter Eisengitter besprüht. In mehreren Nächten hängten wir die riesige Raumskulptur ins Pop-Up-Hotel Lovelace in der Münchner Altstadt. Das Ergebnis war ein Raum voller Dunkelheit, fluoreszierenden Formen und Irrlichtern. Über 300 Menschen wollten das erleben, sie standen bis weit auf die Straße an. Der Pilot war geglückt, auf denn!
„Der HIDALGO geht um“, meldete im September 2018 der Bayerische Rundfunk. Zwei Jahre intensiver Vorbereitung gipfelten in unserer ersten Festivalwoche. In fünf Veranstaltungen spielten wir mit den Gegensätzen: alt und jung, Klassik und Moderne, Mainstream und Nische. Angelegt war die Erstausgabe als eine Reise quer durch den Liedkosmos. Wir begannen im barocken Residenzsaal, den wir mit viel Bass zum Klassik-Club umwidmeten, gingen über in einen Salon-Abend im Barbershop und ließen im alternativ-urbanen Epizentrum Münchens, dem Bahnwärter Thiel, Poetry-Slammer*innen auf umstrittene Lieder mit Old-School-Frauenbild prallen. Schubert dekonstruierten wir mit kryptischer Performance und feierten das Finale mit Bariton, Sopran und Flügel im Minimal Club. Das Abenteuer hatte begonnen.
Musik erzeugt Glückshormone. Kurz: Musik macht high – und der Rausch verband 2019 alle unsere Werke. Wir feierten das Dionysische: die Lust am Sich-selbst-Verlieren, an der Entgrenzung und an der Flucht aus dem Alltag. Die Droge „Lied“ verteilten wir bei Straßenkonzerten und zwischen den Geweihen des Jagd- und Fischereimuseums. Dort ließen wir den Lied-Stoff mit E-Gitarre, Synthesizer, Videokunst und viel Stille zu einer Trance-Party anreichern. Im Gasteig verbanden wir moderne Poesie, neue Komposition und eine Videoproduktion zum extrem aufwändigen Gesamtkunstwerk. Das Lied gab es in allen Formen – und erstmals auch Instrumentales für das neu gegründete HIDALGO Festivalorchester, das auf dem alten Schlachthof-Gelände eine rauschhafte „wilde Parade“ anführte.
Bereits vor der Corona-Pandemie stand das Motto unserer dritten Auflage fest: Am Scheitern interessierte uns, dass es ein sehr intimer Moment ist, den alle kennen, aber über den kaum jemand gerne spricht. In acht Formaten beleuchteten wir das Tabu-Thema künstlerisch von allen Seiten. Unsere Zuschauer*innen sahen Musiktheater mit Boxkampf, konnten via Smartphone beichten und zwischen abgründigen Kletterwänden am Orchester sitzen. Sie fühlten auf einem Parkhaus die soziale Distanz einer Beethoven-Installation, sahen den Tanz einer Migrationsbiografie und debattierten im Elektro-Club. Unsere Lied-Duos fanden sie in rund 100 Mini-Konzerten über die ganze Stadt verteilt. Drei prominente Verlierer*innen und ein gescheitertes Instrument beendeten das Festival mit einer Fuck Up Night als Livestream.
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In unserer vierten Auflage riefen wir auf zur R*Evolution – und kämpften so politisch wie nie mit dem Lied, der Musik und allen Künsten gegen sexualisierte Gewalt und den menschgemachten Klimawandel. Erstmals bezogen wir in dem ehemaligen Betonwerk “Sugar Mountain” für einige Tage ein festes Festivalzentrum. Unser Festivalorchester spielte eine wilde 14. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch als Anklage gegen die Zerstörung unseres Planeten und seiner Ressourcen – mit Wortbeiträgen einer “Fridays for Future”-Aktivistin und eines Umweltexperten. In dem Musiktheater RAPE & CULTURE setzten wir mit Tanz, Sounddesign und den Stimmen Betroffener unseren Beitrag gegen Machtmissbrauch in der Klassik-Szene. “Das Hidalgo-Festival löst seinen hohen Anspruch ein”, schrieb die Süddeutsche Zeitung.
Keine Angst vor Tabu- oder Traditionsbrüchen! „Hereinspaziert in die Werkstatt der abgelagerten Töne“, luden wir im September und Oktober 2022 ein. „Wir polieren die Dreiklänge und flexen die Koloraturen. Wir schrauben Licht- und Klangkunst dran, packen Sport und Politik und Mut und Wut drauf und schauen uns das gute Stück im Schwarzlicht an.“ Die spartenübergreifenden Formate präsentierten wir in urbanen Locations wie dem Boxwerk, dem Techno-Club „Bahnwärter Thiel“ und dem Utopia, aber auch als Brückenschlag zur Hochkultur-Szene in der Trafohalle des Gasteig HP8. „Was für eine Bereicherung des klassischen Konzert-Erlebens“, schrieb die Süddeutsche Zeitung. „Ein intensives Erleben“, hieß es im Deutschlandfunk, unser Publikum sei „ungewöhnlich divers“ und „ungewöhnlich jung“.
In Zeiten von ChatGPT und allgegenwärtigen Debatten um Künstliche Intelligenz, widmeten wir unsere sechste Saison dem Motto MENSCH MASCHINE. Mit der mobilen Installation REFUGIUM lieferten wir audiovisuelle Kunst im Lieferwagen aus: Mehr als sechs Wochen lang tourten wir damit durch die Münchner Stadtviertel, dazu kamen Gastspiele in Siegburg, Köln und Stuttgart. Ebenso dezentral gestalteten wir unsere Neuauflage des Formats STREET ART SONG mit rund 80 Mini-Konzerten in der ganzen Stadt, erstmals gab es dazu spezielle Fahrradrouten zu verschiedenen Auftritten. Beim Großen Liedpreis im Gasteig HP8 traten fantastische junge Künstler*innen gegeneinander an – und zuletzt waren wir zu Gast in der Microsoft Deutschland-Zentrale: Mit dem Lied-Labor WHO ARE YOU erforschten wir, was entsteht, wenn Künstliche Intelligenz auf Künstlerische Menschen trifft.
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