„Der Boxkampf bringt etwas Rohes in die Inszenierung“

In der Lied-Inszenierung HIDALGO BOX-SALON weint, wütet und singt sich eine Sopranistin durch die fünf Phasen der Trauer. Ein innerlicher Kampf, der in rohen Schlägen von Boxsportlern gipfelt – und dank seiner kompakten Form auf jede Bühne passt, wie Regisseur TOM WILMERSDÖRFFER im Interview erklärt

Text: Philipp Nowotny – Foto: Max Ott

 

HIDALGO: Tom, kurz zusammengefasst, was ist der BOX-SALON?

Tom Wilmersdörffer: Wir erzählen die Geschichte der Boxerin Jenny. Sie hat den Kampf ihres Lebens verloren und kämpft sich jetzt durch die fünf Phasen der Trauer zurück ins Leben. Das Stück ist sehr minimalistisch. Eine One-Woman-Show.

Die Sängerin wird dabei von einem Pianisten begleitet.

Genau, der Pianist tritt als Kontrahent auf: Das Stück beginnt damit, dass er zum Sieger erklärt wird und die Sängerin geschlagen am Boden liegt. Während sie einen innerlichen Kampf mit sich selbst beginnt, steigt der Pianist in einen zweiten Ring und bleibt dort die ganze Zeit gewissermaßen als Erinnerung, als nagendes Etwas, im Hintergrund. Bis die Sängerin am Ende des Abends ihren Frieden findet und der Pianist und sein Begleitspiel verschwinden.

Andromahi Raptis und Jonathan Ware beim HIDALGO Box-Salon, Credit: Max Ott

Wie sind die Rollen besetzt?

In der Erstaufführung hat Andromahi Raptis die „Boxerin Jenny“ gespielt – eine kanadische Sopranistin, die momentan Ensemblemitglied des Staatstheaters Nürnberg ist. Sie ist eine fantastische Sängerin, verkörpert aber auch sehr glaubhaft diese toughe, sportliche Rolle. Begleitet wurde sie von Jonathan Ware, der dann eben auch auf der Bühne schauspielte, was ja eher ungewohnt ist für einen Pianisten. Gerade bauen wir außerdem noch eine Zweitbesetzung auf, um das Programm flexibler anbieten zu können.

Die Trauer-Phasen, auf denen die Dramaturgie aufbaut, kommen aus der Sterbebegleitung, richtig?

Genau, diese universellen Phasen durchlebt ein Mensch, der die tödliche Diagnose erhalten hat. Er versinkt in Depression, will es dann gar nicht wahrhaben und beginnt schließlich zu verhandeln: Ich rauche weniger, dann muss es doch vielleicht klappen. Oder er wird spirituell und wendet sich einer Gottheit zu. Und wird wütend, auf sein Schicksal oder seine Familie, die weiterleben darf. Diese Phasen finden sich nicht nur im Angesicht des Todes, sondern auch im Kleinen. Gerade wenn du existenziell scheiterst, stirbt ja immer auch ein Teil von dir selbst.

In der Mitte des Abends gibt es einen dreiminütigen Boxkampf – wie wichtig ist er für die Inszenierung?

Er ist ganz zentral. Ein echter Sparring-Kampf, an dem echte Boxer beteiligt sind, die auch wirklich zuschlagen, während der Pianist dazu improvisiert. Das gibt eine ganz besondere, gespenstische Stimmung.

Sportler des BOXWERK München beim HIDALGO Box-Salon, Credit: Max Ott

Welche Funktion hat die Kampf-Szene?

Die Boxerin befindet sich da gerade in der Trauer-Phase des Verhandelns. Sie wendet sich gewissermaßen an metaphysische Mächte: Sie beschwört ihre Boxhandschuhe, tanzt wie eine Irre durch den Boxring – und wir gelangen mit ihr in eine Art Traumwelt. Der Kampf ist ein Teil ihres Verarbeitungsprozesses, aber gleichzeitig auch eine sehr unmittelbare Erfahrung für das Publikum, wuchtig und direkt.

Warum kämpfen echte Boxer gegeneinander?

Weil es viel intensiver ist, als wenn Statisten einen Schaukampf spielen würden. Das bringt einen Bruch – und dadurch ragt ein Stück Realität, etwas Rohes und Ungefiltertes, in die Inszenierung. Im Produktionsprozess hat uns sehr beschäftigt, ob das funktionieren kann. Aber es ist uns, glaube ich, gut gelungen, den Kampf in die Geschichte einzubinden.

Sängerin Andromahi Raptis und Sportler des BOXWERK München beim HIDALGO Box-Salon, Credit: Max Ott

Wie viel Freiraum hat die Sängerin auf der Bühne? Oder ist die Inszenierung bis ins letzte Detail geplant.

Eher letzteres, die Handlung ist schon sehr durchdekliniert, auch das Timing, das in enger Abstimmung mit dem Licht passieren muss. Im Vorfeld haben wir aber eng zusammengearbeitet, und Andromahi Raptis hat sich stark eingebracht. Wegen Corona mussten wir da übrigens sehr viel über Video-Besprechungen vorarbeiten.

Bei der Uraufführung saß das Publikum um die Bühne, also den Boxring, herum. Was macht das aus?

Das hat Vor- und Nachteile. Für mich hieß das in der Regie, alle Seiten mitzudenken, dass also in alle Richtungen gespielt werden muss. Jede*r Zuschauer*in wird irgendwann mal den Rücken der Sängerin zu sehen bekommen, dafür herrscht aber auch eine sehr viel größere Nähe. Das Setting fühlt sich insgesamt noch einmal realistischer an. Es hat etwas vom Shakespeare’schen Globe Theater in London mit seiner Arena-Bestuhlung.

In welches Genre ordnest du den Abend ein?

Letztendlich ist das Musiktheater, mit den besonderen Elementen Kunstlied und Boxsport. Ich würde es eine „Lied-Inszenierung“ nennen. Sie beruht – anders als etwa eine Oper – nicht auf einem vorgeschriebenen Libretto, sondern auf Liedern von John Dowland und Kurt Weill, die unsere Musikalische Direktorin Johanna Malangré ausgewählt hat. Um diese Stücke herum haben wir die Geschichte der Boxerin Jenny gestrickt.

Sängerin Andromahi Raptis beim HIDALGO Box-Salon, Credit: Max Ott

Renaissance-Songs von Dowland treffen auf 20er-Jahre-Chansons von Kurt Weill – was steckt hinter dieser Auswahl?

Gemein ist den Stücken, dass sie Themen rund um das Scheitern behandeln. Auch wenn sie aus ganz verschiedenen Ländern und Zeiten stammen, gehen sie oft sehr ähnlich mit dem Scheitern um, sind teilweise ironisch, teilweise sehr ernst. Uns ging es darum, die Konstanz des Ur-Themas Scheitern über die Jahrhunderte hinweg einzufangen. Auch musikdramaturgisch gibt das eine schöne Entwicklung, weil wir beide Komponisten in Blöcken nacheinander spielen. Erst Dowland, der leicht, fein und zerbrechlich ist, dann Weill, sehr rotzig, bei dem auch mal geschrien wird.

Das Lied ist aber eine ursprünglich konzertante Form – besteht nicht die Gefahr, dass durch eine szenische Umsetzung die Qualität leidet?

Ich glaube, es kommt immer darauf an, welches Ziel man hat. In unserer Inszenierung erhalten die Lieder ja sogar noch eine zusätzliche Dimension. Wir haben zum einen diese vielen kleinen Geschichten, die innerhalb der Lieder erzählt werden. Zum Beispiel Weills „Surabaya Johnny“, wo es um eine Frau geht, die von einem Seefahrer ausgenutzt wurde, die ihn aber trotzdem noch liebt. Diese Geschichte hat vordergründig nichts mit der Rahmenhandlung der besiegten Boxerin zu tun, gibt ihr aber eine neue Intensität. Das Lied steht für den Moment, in dem sich die Boxerin mit ihrem Trainer auseinandersetzt, der ihr die Welt versprochen hat. Und jetzt sitzt sie in der Ecke und gibt sich ganz der Wut hin, die zu so einem Trauerprozess auch gehört.

Würdest du einem Lied-Puristen vom Besuch abraten?

Wer einen klassischen Liederabend erleben will, wo diese Lieder fein und rein vorgetragen werden und sich alles nur durch Stimme und Ausdruck erzählt, der ist hier in der Tat vielleicht nicht so gut aufgehoben. Uns geht es vielmehr darum, neue Impulse zu setzen. Wir wollen Welten zusammenzubringen, die man davor nie miteinander in Verbindung gebracht hätte.